Literatur
Y2K
Short Story, unveröffentlicht

copyright © 1999 Wolfgang M. Seemann


In der Sylvesternacht werde ich mich gewiß nicht in einen Fahrstuhl zwängen lassen. Höchstens zusammen mit einer schönen Frau. Wie Maischa, Toms neue Freundin. Dann könnten wir wenigstens anständig vögeln, wenn der Fahrstuhl zwischen den Etagen steckenbleibt.

Nicht auszudenken, was jedoch passieren könnte, wenn ich wieder in meiner üblichen Hilfsbereitschaft einer alten gebrechlichen Dame in den Lift helfe: Wir fahren los, sie hält sich und mich an ihrem Arm fest, lächelt glücklich, dann hören wir noch ein unsanftes "wwhhuuiiihmmmm!", das Licht flackert kurz, erlischt und wir stecken fest.

Und dann müssen wir womöglich stundenlang in bibbernder Kälte philosophieren, über Heidegger, Hegel und Hölderlin. Oder über den Metzger an der Ecke und seine unverschämten Fleischpreise und sein noch unverschämteres Personal.

"Also die Kottletts, die mir das Fräulein da neulich aufgeschwatzt hat, die sind in der Pfanne total zusammengefallen. Zäh, wie Schuhsohle! Wenn das mein guter Eduard noch erlebt hätte", sagt sie. Sie fährt mir mit ihren knochigen Händen über die Wange, und fragt mich, warum ich denn meine so zarte rosafarbene Haut unter einem Bart verstecken muß.

Es ist stockfinster, doch sie muß mich wohl zuvor unter dem Licht der Scheinwerfer genau in Augenschein genommen haben.

"Junger Mann", sagt sie, "ich glaub, ich hätte da was für sie. Wissen Sie, junger Mann, mein guter Eduard, mein verstobener Gatte, braucht da, wo er jetzt ist seinen Rasierapparat nicht mehr...", Ich unterbreche sie, will das Thema wechseln. Karl Marx, fällt mir spontan als Bartträger ein. Nein, jetzt bloß nicht über Politik sprechen. Außerdem trage ich ja nur einen kleinen dezenten Spitz- und Unterlippenbart.

"Dizzy Gillespie hat auch so einen kleinen Bart gehabt...", so falle ich der alten Dame ins Wort.
"Wer oder was ist Gillespie?"
"Ein früherer amerikanischer Präsidentschaftskandidat", sage ich, "der sehr musikalisch war".
"Ach hat ihm diese, wie heißt sie gleich... , diese Monika...auch die Flötentöne beigebracht?"
"Nein, Dizzy war Trompeter..."
"Ach... Also junger Mann, wissen Sie, der hätte diesen unverschämten Medienlümmeln gewiß den Marsch blasen können . . ."

- - -

Es ist zwecklos. Es gibt Generationen, mit denen komme ich einfach nicht klar. Mein Stiefvater hieß Eduard. Eduard Thaddäus Lodenmeyer - zweimal verwundet , sechsfach dekoriert! Wenn Eduard früher am Sonntag nach dem Kirchgang unser altes Grammophon anschmiss. . . sein ganzer Stolz war es, an der Kurbel zu drehen. Und wenn dann die knisternden Fanfaren von Liszts „Les Prelude" ertönten", dann hob er seine Stimme und verkündete lautstark, als wäre er er der Reichspropagandaminister persönlich, wie er damals als Bub beim Parteitag in Nürnberg hat Fähnchen schwenken dürfen. Zu Weihnachten hat ihm mein Onkel einen CD-Player geschenkt. Was war das für ihn ein Erlebnis, als er seine erste CD hat hören dürfen: Irgendsoein Heimatorchester aus Salzburg spielte "Märsche aus guter alter Zeit". Grauenhaft, sag ich nur! „Da ist ja sogar der Radetzkymarsch drauf", krächzte mein Stiefvater und bekam sogleich einen seiner gefürchteten Hustenanfälle. Lag es an diese elendig billigen Fehlfarben, die Eduard sonntags in seinem Sessel qualmte oder war es der Asbach, von dem er mittags meist schon soviel geschnasselt hatte, daß er schon am Nachmittag beim Sport vor dem Fernseher lautstark vor sich hinschnarchte? „Und die Rückseite hören wir dann später", sagte er, nachdem er den Radetzkymarsch nun schon zum dritten Male hintereinander mitgesungen hatte. Er hatte ungewollt die Repeatfunktion aktiviert. Daß man aber eine CD nicht einfach wenden kann, wie eine Schellackplatte oder ein Omlette, wollte nicht in seinen Kopf. Eduard gehörte halt zu der Generation von Menschen, die gewohnt war, jeden Pfennig zweimal umzudrehen.

Apropos Schellackplatte: Zwischen Eduards Lieblingsplatten, den "Alten Kameraden" und dem bunten Jägerquodlibet "Frühlingsgrüne Waldeslust", fand ich eine Scheibe, die mich doch ein wenig neugierig machte. "Bix Beiderbecke" las ich da, und fand schon allein den Namen so drollig, so daß ich unbedingt wissen mußte, was sich wohl dahinter verbergen mochte. Jeden Dienstag wenn mein alter Herr in den Krug zum Skatdreschen zu pilgern pflegte, hatte ich - bis unsere Haushälterin Annegret von ihren Nähstunden aus der Abendschule wiederkam (heute würde man ja fast von einem unmoralischen Verhältnis sprechen, aber der alte Eduard war ja viel zu fromm erzogen, daß er noch ein zweites Mal heiraten wollte, und so war und blieb sie immer die "Frau Haushälterin Annegret"), die Wohnung eine halbe Stunde lang ganz für mich alleine. Nur unsere Katze „Mimi" leistete mir Gesellschaft. Kaum hatte der alte Kauz wiedereinmal die Haustür krachend ins Schloß geworfen, lief ich zu unserem Grammophon und legte diese wundersame Scheibe auf. Auf Zehenspitzen stehend beugte ich mich über den Plattenteller während mein ganzer Kopf selbst in Kreisbewegungen geriet, weil die Augen allein der im steten Rund davoneilenden Schrift auf dem ausgeblichenen Etikett nicht schnell genug folgen mochten. „Fidgety feet" mit Bix Beiderbecke und dem Wolverine Orchestra, las ich aufgeregt während ich selbst an der Kurbel drehte, damit die Band nicht zwangsläufig  ins Schleppen geriet.

Einmal kam der Alte unverhofft nach wenigen Minuten wieder vom Krug zurück. Ruhetag, die Resi, die Wirtin, war gestorben. Sie hatte sich nun wohl endgültig zu Tode gesoffen (Gott hab sie selig). "Mach sofort dieses elende Gedudel aus", schimpfte mein Vater, der wegen des verpatzten Skatabends absolut mies drauf war. Er stürmte zu dem Grammophon, riß den über ein Scharnier umklappbaren Tonarm mit einem schmerzhaften "rrrratsch" herunter und brach die Scheibe sofort kaputt. Ehe ich mich versah, setzte es zwei gewaltige Waffeln auf beide Ohren. Doch anstatt mich auf mein Zimmer zu schicken, ging Eduard zum Bücherschrank und holte sich schriftliche Unterstützung für seine nun folgende Moralpredigt. "Daß ich diese Platte nicht gleich weggeworfen habe", grummelte er leise in sich hinein, während er die verstaubten Buchrücken leicht kippte, als könne er dadurch den Inhalt des gesuchten Buches besser erkennen. Das sei entartete Musik, fügte er etwas lauter hinten an, und fischte schließlich ein kleines graues Heftlein hervor, das offenbar hinter die sonst so wohlgeordneten Buchreihen gerutscht war.

"Setz Dich dort auf den Sessel" befahl Eduard energisch, und baute sich wie zum jüngsten Gericht mit seiner ganzen Autorität vor mir auf: "Weimar, den 5. April 1930", las er. "Thüringisches Ministerium des Innern, Thüringisches Volksbildungsministerium". Eduard dozierte diese Worte, das sollte mir offenbar Repekt einflößen. "Bekanntmachung: Seit Jahren machen sich auf fast allen kulturellen Gebieten in steigendem Maße fremdrassige Einflüsse geltend, die die sittlichen Kräfte des deutschen Volkstums zu unterwühlen geeignet sind". Mir lief ein leichtes Schaudern über den Rücken: Sittliche-Kräfte - was habe ich getan? "Einen breiten Raum", so fuhr Eduard fort und erhob sogleich drohend den Zeigefinger der rechten Hand, "nehmen dabei die Erzeugnisse ein, die, wie Jazzband- und Schlagzeug-Musik, Negertänze, Negergesänge, Negerstücke, eine Verherrlichung des Negertums darstellen und dem deutschen Kulturempfinden ins Gesicht schlagen. Diese Zersetzungserscheinungen nach Möglichkeit zu unterbinden, liegt im Interesse der Erhaltung und Erstarkung des deutschen Volkstums..."!

"Ins Gesicht schlagen . . .", wiederhole ich in Gedanken - wollte ich nicht auch einmal groß und stark werden? So darf das doch nicht gemeint sein, mit dieser "Erstarkung"! Ich habe das meinem Vater nie verziehen, daß er damals die Platte von Bix Beiderbecke kaputtgemacht hatte.

- - -

Eigentlich hasse ich dies Kneipen, in denen der Bartresen die Funktion eines langenen Troges hat, wo aufgedunsene Männer vor ihrem Bierglas vor sich hin starren, wie alte klapprige Pferde die man zur Tränke geführt und dort vergessen hat. Wo sich das Politisieren auf biederes Stammtischniveau hinabsenkt, wo das schlechte Fernsehprogramm vom Vorabend die unantastbare Kulturhoheit besitzt, wo der geduldige Zapfhahn den Mittler zwischen Krieg und Frieden mimt. Dennoch lasse ich mich immer wieder einmal auf diese stets gleich verlaufenden Abenteuer ein.

Diesmal ist es der gute alte Tom, der mich mit einem lapidaren "Komm, geh’n wir schnell „auf ein Bier" in solch eine Tränke entführt hat. Tommy, mein früherer Arbeitskollege, fährt zu Sylvester nach New York. Genau genommen: Er fliegt! Mit Maischa, seiner Freundin - sie weiß noch gar nichts davon! "Ordentlich einen draufmachen und dann in die neuen Clubs an der Lower East Side", schwärmt Tommy mir stolz vor und zeigt mir seine Tickets. Einen Haufen Kohle habe er dafür hingeblättert. Das glaub ich ihm gerne. "Natürlich, mit der Milleniumsfeier scheffeln die Reiseveranstalter schon seit Jahren das dicke Geld", gesteht Tom. Aber dabei sein, gehöre ja schließlich dazu.

"Mich kriegst Du an Sylvester in kein Flugzeug rein", stammel ich ("noch nicht einmal mit zehn Frauen vom Kaliber Deiner Maischa" füge ich in Gedanken hinzu, und versuche mir rein bildlich vorzustellen, wie diese beiden prallen Argumente aus Maischas immer viel zu knapp bemessener Bluse hervorquellen, wenn wir uns . . . wenn wir uns . . . ja, wenn wir uns  - mit dem Köpfen ins Kissen vergraben . . . in geduckter Haltung auf eine Bruchlandung im Atlantik vorbereiten müssen). Wie kann man ausgerechnet für dieses Sylvester so viel Geld ausgeben für eine Reise ins ungewisse?

"Y2K, sage ich nur!", entgegene ich.
Tom glotzt mich leicht verdattert an: "Meinst Du wirklich?"
"Ich bekomme ja sowieso kein Urlaub. Bis Neujahr einschließlich haben wir Urlaubssperre!"
"Ach so - ich dachte schon Du wolltest mit jetzt Angst machen", lacht Tom und rammt mir freundschaftlich seine Faust derart kräftig gegen den Oberarm, so daß ich mitsamt meinem Barhocker leicht nach rechts zu schwanken beginne. "Wie weit seid ihr denn mit dem Problem, schaft ihr’s noch rechtzeitig?" fragt Tom, offenbar doch ein wenig verunsichert.
Ich habe gerade noch rechtzeitig einen Sturz vom Barhocker vermeiden können. "Nun ja, ein Streß ist’s schon", rechtfertige ich mich, während ich den Hocker wieder ein wenig zurecht rücke, und bei dieser Gelegenheit gleich ein wenig Sicherheitsabstand zu gewinnen suche.
"Aber ein Ende ist doch schon absehbar. Oder? Schließlich ist das Projekt in Deiner Firma ja terminiert auf den 31. Dezember, das liegt ja schon an der Natur der Sache.", grinst Tommy.
"Nun, die Jazz Clubs in New York würden mich schon interessieren, aber vor allem die, wo noch rein akustisch gespielt wird. In San Francisco gibt es so ein wunderbares japanisches Sushi-Restaurant, und die machen dort noch den puren, unverstärkten Neobop, und zwar Live, während du Dir den Magen mit all diesen Köstlichkeiten vollschaufeln kannst. Aber in diesen neumodischen Drumm’n-Bass-Clubs in New York, da wird doch fast nur noch elektrisch gespielt! Stell Dir vor, Du hast dort deine 50 Dollar Eintritt abgedrückt und dem Soul-DJ verspringt dauernd die Plattennadel weil sein Computermischpult spinnt. Und Du Trottel merkst das gar nicht, hältst das dann womöglich noch für Kunst. Hauptsache eklektisch-schräg."
"Elektrisch?"
"Eklektisch! - Unrein! Entartete Kunst!"
„Ach komm, das ist doch schließlich Geschmackssache! Trinken wir noch einen?"

Aus der Musikbox brüllen uns plötzlich schmissige Bläserfanfaren entgegen. Ein alter Herr hatte Geld eingeworfen und sich ausgerechnet den Radetzkymarsch ausgesucht. Dieser Wurlitzer gibt zur Jahrtausendwende hoffentlich seinen Geist auf, so schießt es mir durch den Kopf. Nicht auszudenken, wenn die Kiste dann aber nicht etwa verstummt, sondern womöglich gar den Radetzkymarsch ständig wiederholt. Geht das überhaupt? Darüber müßte man einmal nachdenken.

"Okay, bestell doch schon mal zwei Halbe", sage ich zu Tom, "Ich bin sofort wieder da, ich zieh mir nur schnell draußen ein paar Zigaretten - und vorher suche ich uns noch ‘was bessere Musik." Vor dem Rausgehen schmeiße ich einen Fünfer in die Musikbox. Dafür krieg ich jetzt zehnmal den Radetzkymarsch, oder - hihi - noch besser: „Alte Kameraden". Und dann nix wie weg, die Maischa müßte ja jetzt allein daheim sein!

WOLFGANG SEEMANN, März 1999
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