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Jazzkritiken und Literatur
Der Free Jazz lebt beim Kaleidophon
Bild der kreativen Gegenwartsmusik im oberösterreichischen Ulrichsberg

 
veröffentlicht am 14.05.2002 in der Passauer Neuen Presse
copyright © 2002 Wolfgang M. Seemann
 
Zum Saisonauftakt der zahlreichen kleinen österreichischen Festivals der etwas anderen Musik verwandelte sich Ulrichsberg im Mühlviertel am Wochenende wieder in das Mekka für die Fans von Improvisation und Free Jazz. Das Kaleidophon konnte einmal mehr ein lebendiges Bild der kreativen Gegenwartsmusik vermitteln. 

Die extremen Ränder (Neue Musik, New Electronica) traten heuer etwas zurück zu Gunsten des Free Jazz, dem allein schon Altmeister Cecil Taylor, bereits seit den 60er Jahren einer der Schlüsselfiguren der Jazz-Avantgarde, entsprechend programmliches Gewicht zuordnete. Der 73-jährige amerikanische Free Jazzer betrat das Podium gemeinsam mit dem britischen Drummer Tony Oxley. Über 90 Minuten lang beackerte Taylor den Flügel, pflügte sich mit Fingern, Fäusten und Ellenbogen durch die Klaviatur des klanggewaltigen Bösendorfer-Imperial – im Blick stets der musikalische Gedankenaustausch mit den nicht minder virtuosen Klangexperimenten des Tony Oxley. Die immense Vitalität und der fantasievolle Ideenreichtum dieser beiden Ausnahmemusiker mag alle Kritiker verstummen lassen, die den Free Jazz totgesagt haben. 

Zum Auftakt des dreitägigen Festivals hatten Veryan Weston (Klavier), John Edwards (Bass) und Mark Sanders (Perkussion) auf das längst nicht zur Gänze erschlossene Potential des Free Jazz hingewiesen. In der seit Bill Evans quasi als „klassisch“ anzusehenden Jazz-Klavier-Trio-Tradition beschritten Weston, Edwards und Sanders neue Wege der klangintensiven Kommunikation. Ebenfalls rein akustisch instrumental suchte auch der junge Norweger Frode Gjerstadt (Altsaxophon und Klarinette) im Trio mit Øyvind Storsund (Bass) und Paal Nilssen-Love (Schlagzeug) die musikalische Auseinandersetzung im Spannungsfeld zwischen der europäischen Improvisationsmusik und afro-amerikanischer Free-Jazz-Bewegung. Bemerkenswerterweise gelang dies auch jenseits der von Skandinaviern sonst so vertrauten Gefilde nordischer Melancholie. 

Die Elektronik wurde auch bei diesem Festival keineswegs gänzlich ausgespart. Die Briten Lol Coxhill, Mike Cooper und Roger Turner, die als „The Recedents“ antraten, führten die „Knisterkiste“ und Elektronik mit rein akustischen Klängen (Sopransaxophon, Stimme und Schlagwerk) zusammen. Am anderen Extrem, der Neuen Musik, stand der griechische Cellist Nikos Veliotis, der das Obertonspektrum seines Inst-rumentes ausreizte – ein Hörerlebnis, das allerdings geteilten Publikumszuspruch erfuhr. Mit Tony Bucks Punk-Funk-Rock-Formation „Tipper Gore“ als Abbinder erhielt das Festival noch eine weitere Farbe, die das weite stilistische Spektrum des Kaleidophons beleuchten konnte.
WOLFGANG SEEMANN

 
 
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Eine ausführliche Reportage über dieses Festival und über die Jazzszene in Österreich veröffentlichte Wolfgang Seemann am 30. Mai 2002 im Rheinischen Merkur. Ein weiterer Festivalbericht des Autors erschien in der Jazz-Zeitung.
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