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Jazzkritiken und Literatur
Marty Cook "Fractal Gumbo"
feat. Marty Cook (tb), Geoff Goodman (g), Gunnar Geisse (g)
09.11.1998, "Abseits" Freising


Veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung
Freisinger Neueste Nachrichten vom 12.11.1998

copyright © 1999 Wolfgang M. Seemann

Abenteuerliche Klangmixturen
der höheren Mathematik


Marty Cook überrascht das Publikum im "Abseits" mit einer
Mischung aus Jazz, Avantgarde und zeitgenössischer Musik


Freising - Eine Posaune, zwei Gitarren - vermag solch eine Besetzung überhaupt ein abendfüllendes Programm tragen?, so mochte sich mancher am Montagabend vielleicht fragen. Marty Cook, Geoff Goodman und Gunnar Geisse formulierten eine klare, eindeutige Antwort. Sie überraschten das Freisinger Jazzpublikum mit einer unkonventionellen Spielweise zwischen Jazz, Avantgarde und zeitgenössischer Komposition.

Befand man sich tatsächlich im Freisinger "Abseits" oder etwa in einem "Musica Viva-Konzert" eines Studios für neue Musik? Was das Trio den Zuhörern zu bieten hatte, zerrte zunächst einmal enorm an den Nerven. Zerrissene, aufgespaltene Klangfetzen irrten durch den Raum, zerschellten klirrend an den Wänden, bevor sie das Ohr überhaupt für Gefühl und Verstand aufbereiten konnten. Die Musiker hat-ten einen Stoß handbeschriebener Notenblätter vor sich auf dem Pult liegen, und da stand gewiß ein Großteil dieser verqueren Musik darauf notiert. Doch man tat sich anfangs schwer, eine übergeordnete musikalische Weltordnung zu lokalisieren, erst langsam schälte sich so etwas wie tonale Hierarchie heraus.

"Fractal Gumbo" nennt sich das Trio des amerikanischen Posaunisten Marty Cook, des New Yorker Gitarristen Geoff Goodman und dessen Kollegen Gunnar Geisse. Der Begriff "Gumbo" bezeichnet eine Mahlzeit aus der kreolischen Küche und mag die Gedanken vielleicht assoziativ ins traditionelle New Orleans fehlleiten. Der erstere Teil des Bandnamens aber ist der Chaostheorie entlehnt, der sogenannten "Fraktalgeometrie". Dieser Begriff stammt von dem Mathematiker und Chaosforscher Benoît Mandelbrot und beschreibt geometrische Formen, die das Chaos als stochastisches Verhalten in einem deterministischen System vorstellbar machen.

Das Trio servierte demnach also eine exotische, mit den Mitteln der höheren Mathematik gewürzte, musikalische  Speise.  Insbesondere Gunnar Geisse hatte sich nämlich in den vergangenen Jahren intensiv mit neuen Kompositionstechniken auseinandergesetzt. Sein Verlust von zwei Fingern der rechten Hand bei einem Bergunfall vor sechs Jahren zwang ihn nicht nur dazu, sich - wie einst Django Reinhardt - eine neue Spieltechnik anzueignen. Die Zeit der Rekonvaleszenz nutzte Geisse auch zu autodidaktischen Studien der Zusammenhänge von Musik, Philosophie, Biologie, Astronomie, Physik und Mathematik. Geisse entwickelte für sich einen neuen musikalischen Stil, der heute verbreiteten Hörgewohnheiten neu und ungewohnt vorkommen mag und doch auf die Antike verweist, in der die Musik noch mit der Arithmetik, Astronomie und Geometrie das Quadrivium der freien Künste, der "artes liberales" bildete.

Der elektrisierenden Härte Geisses Gitarrenspiels setzte sein Partner Geoff Goodmann die zarte Seide seiner Gibson entgegen. Und zwischen diese abenteuerlichen Klangmixturen mischte sich der so traditionell erscheinende weiche Ansatz von Marty Cooks Posaune, immer wieder völlig neue eigene Wege kreierend. Marty Cook, einst der innovativen 60er-Jahre-Avantgarde entwachsen, bleibt ein unberechenbarer Freigeist. Mit seiner "Fractal Gumbo" hat er ein Ensemble formiert, das in Freising überzeugen konnte.

WOLFGANG SEEMANN



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